Die Prinzessin und die Mörderin Teil 1 |
So fing es an: |
Vor langer Zeit lebten, in einem Schloss am Meer, ein König und eine Königin. Sie hatten ein großes, reiches Königreich und viele Kinder. Der König verwaltete sein Reich gut und die Untertanen waren zufrieden. Niemand musste Hunger leiden und es herrschte Frieden. Trotzdem musste der König auch an die Zukunft denken. Nach alter Tradition fiele das Königreich an den ältesten Sohn, wenn der alte König eines Tages die Regentschaft aufgäbe. Oder falls den Kronprinzen etwas zustoßen würde, an den nächstjüngeren. Gäbe es keine Prinzen, könnte das Königreich auch an eine Prinzessin fallen, die es als Königin regieren könnte. In diesem Fall war das aber eher unwahrscheinlich, denn der König und die Königin hatten acht Söhne und nur eine Tochter, die auch noch das jüngste Kind war. Die Prinzen wurden in allem unterwiesen was ein zukünftiger König zu wissen hatte. Sie lernten Lesen und Schreiben, Rechtslehre, Mathematik, Geographie, die Sprachen der Nachbarländer und natürlich die Kampfkunst. Die
Prinzessin hingegen lernte Sticken, Spinnen und Weben, einen Haushalt zu
planen, zu führen und zu unterhalten, Tanzen, Harfe spielen und
Krankenpflege. Als sie zehn Jahre alt war hatte sie alles gelernt was
sie als Haushälterin wissen musste und ihr Unterricht wurde
abgebrochen. Ihr Vater erlaubte ihr nicht mehr mit den Prinzen zu
spielen, weil sich das für eine junge Dame in ihrem Alter nicht ziemte.
Natürlich hatte auch sie Lesen und Schreiben gelernt, aber ihr Vater
sagte, er wolle sie nicht mit dem ganzen Regierungskram belasten und so
saß sie, von da an, meist still in einer Ecke des Unterrichtsraums und
stickte, während die jungen Prinzen mit ihren Lehrern diskutierten oder
gelangweilt am Tisch saßen. Nachmittags spielte sie draußen, während
ihre Brüder Waffenübungen durchführten oder ihre Reitkünste
verbesserten, mit ihrem Schoßhund und abends saß sie brav in der großen
Halle, lächelte freundlich, sang und spielte Harfe, wenn sie dazu
aufgefordert wurde. In
der Nacht allerdings, ließ sie sich alles, was sie tagsüber gesehen
und gehört hatte, durch den Kopf gehen. Sie wusste bald mehr als ihre
Brüder (obwohl diese nichts davon ahnten) und wenn sie mal nicht
schlafen konnte, schlich
sie in die Bibliothek und las alle Bücher, die sie interessant fand. Als
sie 14 war hatte sie alle in der Bibliothek verwahrten Bücher gelesen
und begann sich zu langweilen. Sie überlegte was sie tun könnte und
beschloss nachts die Stadt zu erkunden. In einem sehr alten Buch hatte
sie eine Karte von einem Geheimgang gefunden und den benutzte sie um aus
dem Schloss zu kommen. Der Gang war eng, schleimig und dunkel aber das
war leichter zu ertragen als Langeweile. Sie zog dunkle Sachen an, damit
man sie nicht entdecken konnte und schlich durch die Stadt. Ab und zu
sah sie durch die Fenster und beobachtete die Leute. Alle Hunde kannten
sie und keiner bellte wenn sie kam. Dieser
nächtlichen Beschäftigung war sie zwei Jahre lang treu geblieben, als
etwas unvorhersehbares geschah. Sie
war anwesend als ihr Vater Recht sprach und sah aus ihrer Ecke zu. Plötzlich
entstand ein Tumult. Zwei große grobe Kerle schleppten ein junges
dunkelhaariges Mädchen in den Thronsaal und zwangen sie vor dem König
auf die Knie. Sie tobten und beschuldigten sie des Mordes an einem
Kaufmann. Offensichtlich war sie in das Verbrechen verwickelt gewesen,
denn an ihrem Kleid und an ihren Händen klebte Blut. Der König fragte
sie ob sie den Kaufmann getötet hatte und sie nickte matt mit dem Kopf.
Als sie ihre Stimme erhob um noch etwas zu sagen, schlug ihr einer der Männer
so hart in den Nacken, dass sie zu Boden ging. Der
König nickte seinen Wachen zu und diese trugen
das Mädchen in den Kerker. Der König verkündete schnell das
Urteil, wahlweise lebenslange Haft oder Tod durch Erhängen, das Mädchen
würde wählen dürfen. Die Prinzessin fühlte Mitleid. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieses zarte Mädchen den dicken Kaufmann getötet haben konnte. Sie wollte unbedingt mit ihr sprechen, um zu erfahren was sie noch hatte sagen wollen, als sie so jäh unterbrochen worden war. Sie stand auf und ging in den Kerker hinunter. Der Kerkermeister verbeugte sich vor ihr und zeigte ihr die Zelle. Gerade erwachte das dunkelhaarige Mädchen. Es richtete sich auf, fasste sich an den Kopf und sah sich um. „Hallo.“
Sprach die Prinzessin sie an. „Was
willst du?“ Sie schien misstrauisch. „Mich
interessiert was du vorhin sagen wolltest. Ich meine im Thronsaal. “ „Ist
doch jetzt egal. Wie es aussieht hat der König sein Urteil gefällt und
ich kann mir überlegen ob ich hier verrotte oder mich schnell umbringen
lasse.“ „Ich würde mir gern ein eigenes Urteil erlauben. Hast du den Kaufmann umgebracht?“ „Ja,
verdammt nochmal, das habe ich!“ „Und?“ „Er
wollte gerade über mich herfallen, ich habe in Notwehr gehandelt!“ Die
Prinzessin atmete auf. „Das habe ich mir gedacht.“ „Und?
Sagst du jetzt dem König bescheid und holst mich hier heraus?“ „Ich
werde es auf jeden Fall versuchen, aber meistens hört er mir nicht zu
und der Fall ist für ihn schon gelaufen. Du wirst mit ziemlicher
Sicherheit deine Strafe erhalten, tut mir leid.“ Das
Mädchen stöhnte: „Du hast gut reden, ist ja nur mein Hals der in der
Schlinge steckt.“ Die
Prinzessin sah sich nach dem Kerkermeister um. Er schlief auf seinem
Stuhl. Sie winkte das Mädchen näher und flüsterte: „Sag ihnen du
willst im Kerker bleiben. Du wirst dann in eine Zelle gesteckt, deren
Eingang vermauert und nie wieder geöffnet wird.“ „Bist
du wahnsinnig, da sterbe ich ja lieber schnell, als langsam zu
verhungern.“ „Verdursten“
Nuschelte die Prinzessin automatisch. „Was?“ „Du
würdest verdursten, nicht verhungern. Wähle das oder den Tod. Nur wenn
du dich einmauern lässt, kann ich dir helfen.“ Sie
wurde eingehend gemustert. „Du bist die Prinzessin oder?“ Sie
nickte. „Gut, ich denke darüber nach.“ „Ich
kann dir nur versprechen mein möglichstes zu tun.“ Die Prinzessin
wandte sich ab und ging. Hinter ihr schloss der Kerkermeister ab. Sie
lief zurück in ihr Zimmer und ging allem aus dem Weg. In der Nacht
schlich sie wieder in die Bibliothek und schlug in dem Buch mit den
Geheimgängen nach. Als sie gefunden hatte was sie suchte, versteckte
sie das Buch, so gut es ging und überzeugte sich vor Ort von der
Tauglichkeit des ausgesuchten Ganges. Sie war zufrieden, er führte
direkt in eine leere Kerkerzelle, die schon ziemlich baufällig aussah.
Als sie zurückkam schlief sie sofort auf ihren weichen Kissen ein. Am nächsten Morgen ging sie zu ihrem Vater und erzählte ihm, dass sie sich nützlich gemacht hätte. Falls das Mädchen das Gefängnis wählen sollte, hatte sie die schlechteste Zelle ausgesucht, die sowieso schon kurz vor dem Zusammenfall stand. Ihr Vater begrüßte diesen Einsatz und versprach ihr diese Recherche zu berücksichtigen. Die
kleine Mörderin entschied sich tatsächlich für den Kerker und die
Prinzessin war anwesend als sie eingemauert wurde. Ihr lautes Klagen war
noch zu hören als die Mauer schon stand und auch als alle den Kerker
verließen. Auch der Kerkermeister wurde nach Hause geschickt, eine
eingemauerte Gefangene brauchte er nicht zu bewachen. Am liebsten wäre die Prinzessin sofort durch den Tunnel in den Kerker gekrochen aber ihr Vater spannte sie in seine Geschäfte ein und gab ihr den Auftrag, den Fortschritt bei der Arbeit an einem Wandbehang zu kontrollieren. Die Prinzessin saß wie auf heißen Kohlen und obwohl sie mitarbeitete, war ihr unendlich langweilig. Als es endlich Abend wurde bestellte sie sich ihr Essen auf ihr Zimmer und versteckte einen großen Teil davon. Dann wartete sie bis es im Schloss ganz ruhig geworden war und zog sich um. In
ihrer schlichten dunklen Kleidung und mit geschwärztem Gesicht, schlich
sie zu der Statue, hinter der sich der Geheimgang verbarg. Als sie nach
einiger Zeit an der Geheimtür zum Kerker angekommen war, öffnete sie
diese sofort. „He,
bist du da?“ „Nein,
ich bin vor drei Stunden gegangen, haha.“ „Geht
es dir gut?“ „Nach
einem Tag fängt man an sich Gedanken zu machen. Wo warst du so
lange?“ „Ich
wurde für Palastarbeiten eingespannt, ich bin gekommen so schnell ich
konnte.“ „Und
ich war noch nie froher einen Menschen zu sehen.“ „Wir
müssen hier raus, ich mag keine Kerker. Folge mir.“ Die Prinzessin
kroch voraus und zeigte dem Mädchen den Weg. „Wir gehen in mein
Zimmer. Ich habe dir etwas zu Essen aufgehoben.“ Ihr Magen knurrte
laut „Und vielleicht sollte auch ich eine Kleinigkeit zu mir nehmen. Als
sie im Zimmer waren zog die Prinzessin sich um, während das Mädchen
Fleisch und Brot in sich hineinstopfte. „He pass auf, sonst bekommst
du Bauchschmerzen, willst du dich nicht waschen und etwas anderes
anziehen? Wie heißt du überhaupt?“ „Mein
Name ist Shade. Und? Habt ihr einen Rufnamen Prinzessin? Oder soll ich
euch mit den fünf offiziellen anreden?“ „Bloß nicht! Und nenn mich auch nicht Mechthild. Meine Brüder haben mir Spitznamen gegeben, aber sie gefallen mir nicht. Meine wenigen richtigen Freunde nannten mich Tune.“ „Nannten?“ „Es
waren Zigeuner, sie sind weitergezogen und ich dürfte sie auch nicht
treffen wenn sie wieder hier wären.“ „Irgendwie
habe ich mir das Leben als Prinzessin schöner vorgestellt. Du hast ja
weniger Spaß als eine Bäuerin.“ „Aber
auch weniger Sorgen.“ „Mag
sein.“ „Willst
du dich nicht waschen? Du bist immer noch voll Blut. Ich leihe dir eins
meiner Kleider, wenn du willst.“ „Ich
danke dir.“ Nach einer Pause, während sie schon dabei war sich
auszuziehen fügte sie hinzu: “Warum hilfst du mir?“ Shade blickte
sie ernst an. „Ich
weiß es nicht genau... doch, ich weiß es. Ich denke es liegt daran,
das ich mein ganzes Leben lang eingesperrt war. Ich kann keinen
unbeaufsichtigten Schritt machen, es sei denn ich mache ihn nachts. Als
ich dich sah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass du den dicken
Kaufmann überwältigt haben solltest und ich erinnerte mich an Dinge
die ich in der Stadt gesehen hatte.“ Shade
hob ihren Kopf aus der Waschschüssel: „In der Stadt? Ah, du gehst
bestimmt mit Begleitung.“ „Nein,
ich gehe allein. Nachts, wenn mich niemand sieht. Ich kann sehr gut
schleichen. Vielleicht war einer meiner Vorfahren ein Elf.“ Tune
grinste. „So werde ich dich auch hier herausbringen. Aber erst morgen.
Den Tag über musst du dich hier verstecken.“ Sie reichte Shade ein
Unterkleid und ging zu ihrem Schrank. „Gib mir deine Sachen. Ich werde
sie verbrennen.“ „Ich
bin überrascht. Du bist viel netter als deine Brüder.“ „Das
ist keine Kunst.“ „In
dir steckt mehr als man auf den ersten Blick vermutet.“ „Bitte
behalte es für dich. Versprich es mir.“ „Natürlich verspreche ich es, wem sollte ich es auch erzählen.“ Sie zog das schlichteste Kleid der Prinzessin an. Es passte. „Was willst du machen wenn du wieder frei bist?“ „Ich weiß nicht. Ich hatte bei dem Kaufmann im Laden eine Lehre begonnen, aber es machte keinen Spaß. Ihn zu töten war die einzige Abwechslung die ich hatte. Meine Eltern sind vor einiger Zeit gestorben. Vielleicht sollte ich professionell werden.“ „Du willst Mörderin werden?“ Die Prinzessin war ein wenig entsetzt. „Es ist ein Lehrberuf wie jeder andere auch. Ich müsste nur einen Meister finden der mich aufnimmt.“ „Willst du das wirklich machen?“ „Ja, ich habe im Gefängnis gut darüber nachgedacht. Ich werde den Leuten helfen sich gegen solche Männer wie den Kaufmann durchzusetzen.“ „In der freien Stadt gibt es einen Mann der dir vielleicht helfen kann. Ich habe Leute über ihn reden hören, er hat einen schrecklichen Ruf. Trotzdem überleg es dir noch mal.“ In diesem Moment klopfte es an der Tür. „Versteck dich in meinem Schrank bis ich wiederkomme.“ „Prinzessin, seid ihr noch wach?“ Tune sprang in ihr Bett und deckte sich bis zum Hals zu. Die alte Kinderfrau trat ein. „Warum schlaft ihr nicht?“ „Oh, ich hatte einen bösen Traum. Aber euer Klopfen hat mich geweckt.“ „Mein armes Kind, das hängt sicher mit den schlimmen Vorkommnissen zusammen. Der arme, arme Kaufmann.“ „Ja, das hat mich wirklich beschäftigt. Aber ich bin sicher das ich nun schlafen kann. Gute Nacht Alma.“ „Träume süß mein Herzblatt“ Alma verließ das Zimmer. Kurze Zeit nachdem die Tür geklappt hatte, ertönte ein Lachen aus dem Schrank. Tune stand auf und schlich hin. Sie öffnete die Tür. Shade war rot angelaufen: „Sie hat keine Ahnung, mein Herzblatt!“ Tune grinste: „Mach dich nicht über deine Prinzessin lustig, sonst landest du noch im Kerker.“ „Ich denke es ist besser wenn wir jetzt schlafen. Ich bleibe hier, versteckt unter diesen Decken und warte auf dich. Komm aber bitte nicht erst in zwei Tagen wieder.“ In der nächsten Nacht brachte die Prinzessin Shade durch den Geheimgang in die Stadt. Sie hatte ihr etwas zum Essen, Kleider und etwas Gold besorgt. Als sie sich verabschiedeten gab sie ihr noch einen Brief mit ihrem Siegel. „Was ist das?“ „Lach mich nicht aus, es ist ein Empfehlungsschreiben an deinen neuen Lehrmeister. Pass auf das er es sofort vernichtet wenn er es gelesen hat.“ „Ich danke dir.“ „Bitte komm mich ab und zu besuchen. Dafür brauchst du das hier.“ Sie reichte ihr noch einen zweiten Brief, der aber nicht verschlossen war. Innen trug er das Siegel der Prinzessin und der Text sagte aus, dass derjenige der ihn vorzeigte, sofort zu ihr gebracht werden sollte. Sie Umarmten sich zum Abschied. „Auf Wiedersehen.“ „Ich wünsche dir viel Erfolg.“ Zwei Jahre vergingen und nichts besonderes geschah. Des Nachts schlich die Prinzessin immer noch durch die Stadt, aber ihre neueste Lieblingsbeschäftigung war Klettern. Sie übte an Felsen im Wald, an den Burgmauern und an Bäumen, bis sie keine Herausforderungen mehr fand. Auf einmal wurde ihr Leben wieder langweilig. So interessant war die Stadt nicht, dass man sich jahrelang damit beschäftigen konnte und das Palastleben schien immer eintöniger zu werden. Sie überlegte sogar ob sie weglaufen sollte, aber sie verwarf den Plan. Nachher dachte der König noch sie war entführt worden und fing mit irgendwem deswegen Krieg an. Als sie ihren Vater fragte, ob er ihr erlauben würde Bogenschießen zu lernen, schlug er ihr vor Bettwäsche zu besticken. Als sie endlich damit fertig war, fragte sie ihn nie wieder um Erlaubnis. Eines Tages kamen die Zigeuner wieder in die Stadt. Sie schlugen ihr Lager am Stadtrand auf und gingen ihren Geschäften nach. Es war Tradition, dass sie im Schloss eine Vorführung gaben und danach ihre Waren vorführten, damit der König die erste Wahl hatte. Aus lauter Vorfreude hüpfte die Prinzessin singend durch ihr Zimmer. Sie zog ihr feinstes Kleid an und Alma schnürte es so fest, dass sie fast erstickte. Es war ihr egal. Endlich etwas Abwechslung. Am
Abend versammelten sich alle in der großen Halle. Die Gaukler tanzten
auf dem Seil, spuckten Feuer und
jonglierten mit Bällen, Eiern und Schwertern. Als die Vorstellung
vorbei war schickte der König seine Jüngste, um ihnen etwas Gold für
die Unterhaltung zu geben. Jeder bekam ein Goldstück. Dann sagte er zu
der Prinzessin: „ Agnes Mechthild Helewidis Ladina Evanthia such dir
etwas aus. Ich lasse dir den Vortritt vor deinen Brüdern.“ Die Prinzessin durchsuchte die Waren und fand etwas,
was ihr sehr gefiel. Allerdings war sie sich sicher, dass ihr Vater es
ihr nicht kaufen würde. Deshalb suchte sie sich eine glitzernde
Goldkugel aus und tat so, als wäre es schon immer ihr größter
Herzenswunsch gewesen, so etwas zu besitzen. Als die Gaukler gegangen waren, kehrte wieder Ruhe im
Schloss ein. Tune entschuldigte sich, sie sei müde und ging auf ihr
Zimmer. Alma befreite sie aus der Korsage und deckte sie zu als sie im
Bett lag. Die Prinzessin kam sich vor wie ein 18 Jahre altes unmündiges
Kind. Sobald es um sie herum richtig ruhig geworden war zog sie ihre
„Ausgehkleidung“ an und schlich sich nach draußen.
Wo sich das Zigeunerlager befand hatte sie schon am
Tag, von einem der Wachtürme aus festgestellt. Jetzt schlich sie im
Schutz der Dunkelheit dorthin. Die Zigeuner waren am feiern. Sie sahen
den Mädchen zu, die um das Feuer tanzten und tranken Wein, den der König
spendiert hatte. Tune wollte gefunden werden, deshalb lief sie
geradewegs auf das Lager zu. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter: „Wen haben
wir denn hier?“ Sie drehte sich um und ihr Gegenüber erschrak:
„Prinzessin, ich habe euch nicht erkannt, wie kann ich euch dienen?“
Sie konnte ihn gerade noch davon abhalten sich auf den Boden zu werfen. „Lass das oder sehe ich aus als wäre mein Besuch ein
offizieller Anlass?“ Er wagte es aufzusehen und sie zu mustern: „Nein,
irgendwie nicht.“ Er war verwirrt, fing sich aber schnell wieder:
„Begleitet mich doch und setzt euch zu uns ans Feuer.“ „Gern. Ich dachte schon ihr fragt mich nie. Von
meinen Brüdern ist keiner anwesend, oder?“ „ Nein, keine der Hoheiten ist anwesend. Ich meine außer
euch natürlich.“ Er führte sie an das Lagerfeuer und bot ihr einen
Platz auf einem Kissen an. Sie setzte sich und beobachtete das bunte
Treiben um sich herum. Die Zigeuner schienen viel Spaß zu haben. Irgendwann verbeugte sich ein junger Zigeuner vor ihr
und fragte: „Kann ich euch mit irgendetwas dienen Hoheit? Oder seid
ihr nur gekommen um etwas Abwechslung zu genießen?“ Sie erkannte ihn sofort: „Vasco? Ich habe dich gar
nicht bei Hofe gesehen.“ Dann erinnerte sie sich an seine Frage und
setzte hinzu: „Abwechslung und Geschäfte führen mich zu euch. Außer
dem wollte ich ein paar neue Lieder lernen.“ „Ich schlage vor wir regeln erst das geschäftliche.
Wie kann ich dir helfen?“ „Als ich vorhin den Karren durchwühlte, fand ich
zwei Sachen die ich gerne kaufen würde.“ Er stand auf und sie gingen
gemeinsam zu dem Wagen mit den Waren. „Was genau? Such es dir
heraus.“ Sie suchte und hielt schließlich ihren Fund hoch. „Natürlich
kannst du es kaufen, aber ich frage mich wozu eine Prinzessin einen
Dolch und einen Bogen braucht.“ „Es ist mir nicht erlaubt mit Waffen umzugehen und
sie sind alle gut verwahrt. Aber ich langweile mich und denke dass es
mir nicht schadet wenn ich mich verteidigen kann.“ „Das schadet niemandem. Wenn du willst zeige ich dir
wie man mit dem Bogen umgeht. Zumindest solange wir noch hier sind.“ „Ich danke dir.“ Die Prinzessin bezahlte die Waffen
und schob den Dolch in ihren Stiefel. Den Bogen nahm sie in die Hand.
„Gehen wir zurück zum Feuer?“ In dieser Nacht machte die Prinzessin ihrem Spitznamen
ale Ehre. Sie kannte viele Lieder und sang die Zigeunerlieder mit. Dann
versprach sie am nächsten Abend wiederzukommen und schlich zurück ins
Schloss. In den nächsten Tagen lernte sie die Grundlagen des
Bogenschießens und Vasco zeigte ihr auch wie man mit dem Dolch umging.
Seit langem hatte sie nicht mehr so viel Spaß gehabt. Als sie am frühen Morgen nach Hause kam, die Zigeuner
wollten an diesem Tag abreisen, war sie sehr niedergeschlagen. Sie
betrat ihr Zimmer und erschrak. Ihr Vater saß auf dem Bett. „Wo warst du?“ Presste er wütend hervor. „Und
was hast du da für Sachen an?“ „Vater, ich war nur – äh- Spazieren.“ „Soso, Spazieren. Mitten in der Nacht?“ „Ja, ich konnte nicht schlafen.“ „ Und wo warst du gestern?“ „Gestern?“ „Ja! Auch gestern warst du nicht in deinem Zimmer.
Alma ist fast gestorben vor Sorge. Sie hat es mir heute morgen erzählt.
Was immer du tust, jetzt ist Schluss damit. Ich würde dich ja
verheiraten, aber die Nachbarkönige haben nur Töchter. Du stehst ab
sofort unter Arrest und darfst dein Zimmer nicht verlassen. Ich will gar
nicht wissen, ob du Schande über mein Haus gebracht hast aber das wird
sich ja herausstellen. Diese Kleidung und deine Bücher werden
konfisziert. Ich werde Alma verbieten mit dir zu sprechen, damit du
genug Muße hast über deine nächtlichen Spaziergänge nachzudenken.
Ich war wohl bisher zu nachsichtig. Und in der Zeit hier wirst du an
einem Wandbehang arbeiten der die Tugenden darstellt, hast du mich
verstanden?“ „Ja Vater“ Die Prinzessin senkte den Kopf und er ging durch die Tür
und schlug sie hinter sich zu. War das Leben vorher schon langweilig gewesen, schlug
der Stubenarrest alles vorherige um Längen. Sie aß, schlief und
arbeitete an dem Wandbehang. Vor ihrer Tür hielt ein Soldat Wache und
jedem war verboten mit ihr zu sprechen. War niemand da, übte sie mit
ihrem Dolch Zielwerfen auf eine Holzlatte, aber weil die Wache schon
einmal nachgesehen hatte, was für ein Geräusch das war, hörte sie
damit auf, um nicht auch noch ihre Waffen zu verlieren. Bei der Arbeit
an dem Wandbehang sang sie, um sich die Zeit zu vertreiben und ab und zu
warf sie einen Blick aus dem Fenster. Sie kletterte an der Wand neben
der Tür um in Form zu bleiben und hätte auch versucht durch das
Fenster zu entkommen, wäre es nicht zu klein gewesen. Sie dachte oft an
Shade und fragte sich was sie wohl gerade machte. Ob sie wirklich eine
Ausbildung zur Mörderin gemacht hatte? Seit drei Jahren hatten sie sich
nicht mehr gesehen. Nach drei Wochen wurde sie eines Nachts von einem
Klopfen geweckt. Sie wunderte sich. Eigentlich kam nur Alma um ihr etwas
zu essen zu bringen und die klopfte nicht an, sondern trat, wie der König
es befohlen hatte, einfach ein. Sie steckte ihren Dolch hinten in den Gürtel von ihrem
Morgenmantel, schlich blitzschnell zur Tür, stellte sich daneben und
sagte: „Herein“. Die Tür öffnete sich und eine Gestalt in brauner
Kleidung trat ein. Sie flüsterte: „Tune?“ „Shade?“ Die Prinzessin traute ihren Augen nicht
„Was machst du denn hier?“ „Hallo, wonach sieht es denn aus? Ich befreie
dich!“ „Keinen Moment zu früh. Warte ich ziehe mich schnell
an.“ Die Prinzessin zog sich ein Kleid an, steckte den Dolch in ihren
Stiefel und nahm den Bogen in die Hand. Dann schlich sie zurück zu
Shade. Diese schlug vor: „Am besten nehmen wir den
Geheimgang um nach draußen zu gelangen. Was ist? Warum bleibst du
stehen?“ „Mir ist noch etwas eingefallen. Ich brauche noch ein
paar Minuten.“ „Beeil dich. Wir müssen noch vor Tagesanbruch weit
weg sein.“ Die Prinzessin rannte zum Schreibtisch und schrieb hektisch
ein paar Zeilen für ihren Vater. Dann setzte sie ihr Siegel darunter
und steckte es nach kurzem Überlegen in die Tasche. „Gut, kann
losgehen!“ Auf dem Flur lag der Wachmann. „Ist er tot?“ „Nein, er schläft nur sehr tief. Wir haben noch
einige Stunden bis er wieder aufwacht. Hilf mir ihn auf den Stuhl zu
setzen.“ Sie setzten den bewusstlosen Wachmann auf einen Stuhl und
schlichen dann zum Geheimgang. Die Prinzessin fand es mühsam ihn mit
Kleid zu durchqueren, aber sie hatte ja keine andere Wahl. In einem Wäldchen,
ein paar hundert Schritte entfernt hatte Shade zwei Pferde angebunden,
auf denen sie „flüchteten“. „Ich danke dir. Viel länger hätte ich das nicht
mehr ausgehalten.“ „Ich machte mich auf den Weg als ich davon hörte.
Das ganze Reich tratscht über dich. Das Volk meint du hättest dich des
Nachts zu einem Liebhaber geschlichen und der König würde dich bis zur
Niederkunft verstecken, damit er das Kind danach in einem Kloster
verschwinden lassen könnet.“ „Blödsinn!“ „Das dachte ich auch und legte mir gleich einen Plan
für deine Befreiung zurecht.“ „Was
hast du in den letzten Jahren gemacht?“ „Ich
ging zu dem Meister, von dem du mir erzählt hattest und er erklärte
sich bereit mich zur Diebin auszubilden. Ich lernte schnell und weil er
wusste, dass ich eigentlich Mörderin werden wollte, schickte er mich
danach zu einem seiner Bekannten der mich dann weiter ausbildete. Seit
einigen Monaten ist meine Ausbildung abgeschlossen und ich weiß alles
was eine Mörderin wissen muss.“ „Na dann haben wir ja genug Gesprächsstoff.“ „Was hast du in den letzten Jahren so getrieben?“ „Ich habe hübsch ausgesehen, repräsentativ in der
Gegend herumgestanden, bin geklettert und habe Bogenschießen gelernt.
Ach ja, ich habe auch einen halben Wandbehang über die Tugenden
angefertigt.“ „Klingt ja aufregend“ Shade lachte. „Ich weiß gar nicht was ich mit meiner neuen
Freiheit anfangen soll. Ich war noch nie auf mich allein gestellt.“ „Das bist du doch auch jetzt nicht. Wenn du willst
kannst du mich begleiten. Ich ziehe über das Land, von Auftrag zu
Auftrag und eine gute Bogenschützin könnte ich gebrauchen.“ „Ich denke gut ist etwas übertrieben.“ „Da hat mir aber ein gewisser Zigeuner etwas anderes
erzählt. Also, was sagst du zu meinem Angebot?“ „Ich begleite dich gerne.“ Die Prinzessin dachte
kurz nach „Aber bitte versprich mir zwei Dinge.“ „Welche?“ „Sag mir wenn ich dir zur Last werde...“ „ Mach ich, was noch?“ „...verrate bitte niemanden meine richtigen Namen. Ab
heute heiße ich nur noch Tune.“ „Ich verspreche es dir, Agnes Mechthild Helewidis
Ladina Evanthia und schwöre auf meine Ehre.“ Lachend ritten die Prinzessin und die Mörderin durch den Frühnebel, dem Sonnenaufgang und ihrer gemeinsamen Zukunft entgegen und die Schicksalsgöttin lachte mit.
|