Die Prinzessin und die Mörderin

Teil 1

So fing es an:

 

Vor langer Zeit lebten, in einem Schloss am Meer, ein König und eine Königin. Sie hatten ein großes, reiches Königreich und viele Kinder.  Der König verwaltete sein Reich gut und die Untertanen waren zufrieden. Niemand musste Hunger leiden und es herrschte Frieden. Trotzdem musste der König auch an die Zukunft denken.

Nach alter Tradition fiele das Königreich an den ältesten Sohn, wenn der alte König eines Tages die Regentschaft aufgäbe. Oder falls den Kronprinzen  etwas zustoßen würde, an den nächstjüngeren. Gäbe es keine Prinzen, könnte das Königreich auch an eine Prinzessin fallen, die es als Königin regieren könnte. In diesem Fall war das aber eher unwahrscheinlich, denn der König und die Königin hatten acht Söhne und nur eine Tochter, die auch noch das jüngste Kind war.

Die Prinzen wurden in allem unterwiesen was ein zukünftiger König zu wissen hatte. Sie lernten Lesen und Schreiben, Rechtslehre, Mathematik, Geographie, die Sprachen der Nachbarländer und natürlich die Kampfkunst.

Die Prinzessin hingegen lernte Sticken, Spinnen und Weben, einen Haushalt zu planen, zu führen und zu unterhalten, Tanzen, Harfe spielen und Krankenpflege. Als sie zehn Jahre alt war hatte sie alles gelernt was sie als Haushälterin wissen musste und ihr Unterricht wurde abgebrochen. Ihr Vater erlaubte ihr nicht mehr mit den Prinzen zu spielen, weil sich das für eine junge Dame in ihrem Alter nicht ziemte. Natürlich hatte auch sie Lesen und Schreiben gelernt, aber ihr Vater sagte, er wolle sie nicht mit dem ganzen Regierungskram belasten und so saß sie, von da an, meist still in einer Ecke des Unterrichtsraums und stickte, während die jungen Prinzen mit ihren Lehrern diskutierten oder gelangweilt am Tisch saßen. Nachmittags spielte sie draußen, während ihre Brüder Waffenübungen durchführten oder ihre Reitkünste verbesserten, mit ihrem Schoßhund und abends saß sie brav in der großen Halle, lächelte freundlich, sang und spielte Harfe, wenn sie dazu aufgefordert wurde.

In der Nacht allerdings, ließ sie sich alles, was sie tagsüber gesehen und gehört hatte, durch den Kopf gehen. Sie wusste bald mehr als ihre Brüder (obwohl diese nichts davon ahnten) und wenn sie mal nicht schlafen konnte,  schlich sie in die Bibliothek und las alle Bücher, die sie interessant fand.

Als sie 14 war hatte sie alle in der Bibliothek verwahrten Bücher gelesen und begann sich zu langweilen. Sie überlegte was sie tun könnte und beschloss nachts die Stadt zu erkunden. In einem sehr alten Buch hatte sie eine Karte von einem Geheimgang gefunden und den benutzte sie um aus dem Schloss zu kommen. Der Gang war eng, schleimig und dunkel aber das war leichter zu ertragen als Langeweile. Sie zog dunkle Sachen an, damit man sie nicht entdecken konnte und schlich durch die Stadt. Ab und zu sah sie durch die Fenster und beobachtete die Leute. Alle Hunde kannten sie und keiner bellte wenn sie kam.

Dieser nächtlichen Beschäftigung war sie zwei Jahre lang treu geblieben, als etwas unvorhersehbares geschah.

Sie war anwesend als ihr Vater Recht sprach und sah aus ihrer Ecke zu. Plötzlich entstand ein Tumult. Zwei große grobe Kerle schleppten ein junges dunkelhaariges Mädchen in den Thronsaal und zwangen sie vor dem König auf die Knie. Sie tobten und beschuldigten sie des Mordes an einem Kaufmann. Offensichtlich war sie in das Verbrechen verwickelt gewesen, denn an ihrem Kleid und an ihren Händen klebte Blut. Der König fragte sie ob sie den Kaufmann getötet hatte und sie nickte matt mit dem Kopf. Als sie ihre Stimme erhob um noch etwas zu sagen, schlug ihr einer der Männer so hart in den Nacken, dass sie zu Boden ging.

Der König nickte seinen Wachen zu und diese trugen  das Mädchen in den Kerker. Der König verkündete schnell das Urteil, wahlweise lebenslange Haft oder Tod durch Erhängen, das Mädchen würde wählen dürfen.

Die Prinzessin fühlte Mitleid. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieses zarte Mädchen den dicken Kaufmann getötet haben konnte. Sie wollte unbedingt mit ihr sprechen, um zu erfahren was sie noch hatte sagen wollen, als sie so jäh unterbrochen worden war. Sie stand auf und ging in den Kerker hinunter. Der Kerkermeister verbeugte sich vor ihr und zeigte ihr die Zelle. Gerade erwachte das dunkelhaarige Mädchen. Es richtete sich auf, fasste sich an den Kopf und sah sich um.

„Hallo.“ Sprach die Prinzessin sie an.

„Was willst du?“ Sie schien misstrauisch.

„Mich interessiert was du vorhin sagen wolltest. Ich meine im Thronsaal. “

„Ist doch jetzt egal. Wie es aussieht hat der König sein Urteil gefällt und ich kann mir überlegen ob ich hier verrotte oder mich schnell umbringen lasse.“

„Ich würde mir gern ein eigenes Urteil erlauben. Hast du den Kaufmann umgebracht?“

„Ja, verdammt nochmal, das habe ich!“

„Und?“

„Er wollte gerade über mich herfallen, ich habe in Notwehr gehandelt!“

Die Prinzessin atmete auf. „Das habe ich mir gedacht.“

„Und? Sagst du jetzt dem König bescheid und holst mich hier heraus?“

„Ich werde es auf jeden Fall versuchen, aber meistens hört er mir nicht zu und der Fall ist für ihn schon gelaufen. Du wirst mit ziemlicher Sicherheit deine Strafe erhalten, tut mir leid.“

Das Mädchen stöhnte: „Du hast gut reden, ist ja nur mein Hals der in der Schlinge steckt.“

Die Prinzessin sah sich nach dem Kerkermeister um. Er schlief auf seinem Stuhl. Sie winkte das Mädchen näher und flüsterte: „Sag ihnen du willst im Kerker bleiben. Du wirst dann in eine Zelle gesteckt, deren Eingang vermauert und nie wieder geöffnet wird.“

„Bist du wahnsinnig, da sterbe ich ja lieber schnell, als langsam zu verhungern.“

„Verdursten“ Nuschelte die Prinzessin automatisch.

„Was?“

„Du würdest verdursten, nicht verhungern. Wähle das oder den Tod. Nur wenn du dich einmauern lässt, kann ich dir helfen.“

Sie wurde eingehend gemustert. „Du bist die Prinzessin oder?“ Sie nickte. „Gut, ich denke darüber nach.“

„Ich kann dir nur versprechen mein möglichstes zu tun.“ Die Prinzessin wandte sich ab und ging. Hinter ihr schloss der Kerkermeister ab.

Sie lief zurück in ihr Zimmer und ging allem aus dem Weg. In der Nacht schlich sie wieder in die Bibliothek und schlug in dem Buch mit den Geheimgängen nach. Als sie gefunden hatte was sie suchte, versteckte sie das Buch, so gut es ging und überzeugte sich vor Ort von der Tauglichkeit des ausgesuchten Ganges. Sie war zufrieden, er führte direkt in eine leere Kerkerzelle, die schon ziemlich baufällig aussah. Als sie zurückkam schlief sie sofort auf ihren weichen Kissen ein.

Am nächsten Morgen ging sie zu ihrem Vater und erzählte ihm, dass sie sich nützlich gemacht hätte. Falls das Mädchen das Gefängnis wählen sollte, hatte sie die schlechteste Zelle ausgesucht, die sowieso schon kurz vor dem Zusammenfall stand. Ihr Vater begrüßte diesen Einsatz und versprach ihr diese Recherche zu berücksichtigen.

Die kleine Mörderin entschied sich tatsächlich für den Kerker und die Prinzessin war anwesend als sie eingemauert wurde. Ihr lautes Klagen war noch zu hören als die Mauer schon stand und auch als alle den Kerker verließen. Auch der Kerkermeister wurde nach Hause geschickt, eine eingemauerte Gefangene brauchte er nicht zu bewachen.

Am liebsten wäre die Prinzessin sofort durch den Tunnel in den Kerker gekrochen aber ihr Vater spannte sie in seine Geschäfte ein und gab ihr den Auftrag, den Fortschritt bei der Arbeit an einem Wandbehang zu kontrollieren. Die Prinzessin saß wie auf heißen Kohlen und obwohl sie mitarbeitete, war ihr unendlich langweilig. Als es endlich Abend wurde bestellte sie sich ihr Essen auf ihr Zimmer und versteckte einen großen Teil davon. Dann wartete sie bis es im Schloss ganz ruhig geworden war und zog sich um.

In ihrer schlichten dunklen Kleidung und mit geschwärztem Gesicht, schlich sie zu der Statue, hinter der sich der Geheimgang verbarg. Als sie nach einiger Zeit an der Geheimtür zum Kerker angekommen war, öffnete sie diese sofort.

„He, bist du da?“

„Nein, ich bin vor drei Stunden gegangen, haha.“

„Geht es dir gut?“

„Nach einem Tag fängt man an sich Gedanken zu machen. Wo warst du so lange?“

„Ich wurde für Palastarbeiten eingespannt, ich bin gekommen so schnell ich konnte.“

„Und ich war noch nie froher einen Menschen zu sehen.“

„Wir müssen hier raus, ich mag keine Kerker. Folge mir.“ Die Prinzessin kroch voraus und zeigte dem Mädchen den Weg. „Wir gehen in mein Zimmer. Ich habe dir etwas zu Essen aufgehoben.“ Ihr Magen knurrte laut „Und vielleicht sollte auch ich eine Kleinigkeit zu mir nehmen.

Als sie im Zimmer waren zog die Prinzessin sich um, während das Mädchen Fleisch und Brot in sich hineinstopfte. „He pass auf, sonst bekommst du Bauchschmerzen, willst du dich nicht waschen und etwas anderes anziehen? Wie heißt du überhaupt?“

„Mein Name ist Shade. Und? Habt ihr einen Rufnamen Prinzessin? Oder soll ich euch mit den fünf offiziellen anreden?“

„Bloß nicht! Und nenn mich auch nicht Mechthild. Meine Brüder haben mir Spitznamen gegeben, aber sie gefallen mir nicht. Meine wenigen richtigen Freunde nannten mich Tune.“

„Nannten?“

„Es waren Zigeuner, sie sind weitergezogen und ich dürfte sie auch nicht treffen wenn sie wieder hier wären.“

„Irgendwie habe ich mir das Leben als Prinzessin schöner vorgestellt. Du hast ja weniger Spaß als eine Bäuerin.“

„Aber auch weniger Sorgen.“

„Mag sein.“

„Willst du dich nicht waschen? Du bist immer noch voll Blut. Ich leihe dir eins meiner Kleider, wenn du willst.“

„Ich danke dir.“ Nach einer Pause, während sie schon dabei war sich auszuziehen fügte sie hinzu: “Warum hilfst du mir?“ Shade blickte sie ernst an.

„Ich weiß es nicht genau... doch, ich weiß es. Ich denke es liegt daran, das ich mein ganzes Leben lang eingesperrt war. Ich kann keinen unbeaufsichtigten Schritt machen, es sei denn ich mache ihn nachts. Als ich dich sah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass du den dicken Kaufmann überwältigt haben solltest und ich erinnerte mich an Dinge die ich in der Stadt gesehen hatte.“

Shade hob ihren Kopf aus der Waschschüssel: „In der Stadt? Ah, du gehst bestimmt mit Begleitung.“

„Nein, ich gehe allein. Nachts, wenn mich niemand sieht. Ich kann sehr gut schleichen. Vielleicht war einer meiner Vorfahren ein Elf.“ Tune grinste. „So werde ich dich auch hier herausbringen. Aber erst morgen. Den Tag über musst du dich hier verstecken.“ Sie reichte Shade ein Unterkleid und ging zu ihrem Schrank. „Gib mir deine Sachen. Ich werde sie verbrennen.“

„Ich bin überrascht. Du bist viel netter als deine Brüder.“

„Das ist keine Kunst.“

„In dir steckt mehr als man auf den ersten Blick vermutet.“

„Bitte behalte es für dich. Versprich es mir.“

„Natürlich verspreche ich es, wem sollte ich es auch erzählen.“ Sie zog das schlichteste Kleid der Prinzessin an. Es passte.

„Was willst du machen wenn du wieder frei bist?“

„Ich weiß nicht. Ich hatte bei dem Kaufmann im Laden eine Lehre begonnen, aber es machte keinen Spaß. Ihn zu töten war die einzige Abwechslung die ich hatte. Meine Eltern sind vor einiger Zeit gestorben. Vielleicht sollte ich professionell werden.“

„Du willst Mörderin werden?“ Die Prinzessin war ein wenig entsetzt.

„Es ist ein Lehrberuf wie jeder andere auch. Ich müsste nur einen Meister finden der mich aufnimmt.“

„Willst du das wirklich machen?“

„Ja, ich habe im Gefängnis gut darüber nachgedacht. Ich werde den Leuten helfen sich gegen solche Männer wie den Kaufmann durchzusetzen.“

„In der freien Stadt gibt es einen Mann der dir vielleicht helfen kann. Ich habe Leute über ihn reden hören, er hat einen schrecklichen Ruf. Trotzdem überleg es dir noch mal.“ In diesem Moment klopfte es an der Tür. „Versteck dich in meinem Schrank bis ich wiederkomme.“

„Prinzessin, seid ihr noch wach?“ Tune sprang in ihr Bett und deckte sich bis zum Hals zu. Die alte Kinderfrau trat ein. „Warum schlaft ihr nicht?“

„Oh, ich hatte einen bösen Traum. Aber euer Klopfen hat mich geweckt.“

„Mein armes Kind, das hängt sicher mit den schlimmen Vorkommnissen zusammen. Der arme, arme Kaufmann.“

„Ja, das hat mich wirklich beschäftigt. Aber ich bin sicher das ich nun schlafen kann. Gute Nacht Alma.“

„Träume süß mein Herzblatt“ Alma verließ das Zimmer. Kurze Zeit nachdem die Tür geklappt hatte, ertönte ein Lachen aus dem Schrank. Tune stand auf und schlich hin. Sie öffnete die Tür. Shade war rot angelaufen: „Sie hat keine Ahnung, mein Herzblatt!“

Tune grinste: „Mach dich nicht über deine Prinzessin lustig, sonst landest du noch im Kerker.“

„Ich denke es ist besser wenn wir jetzt schlafen. Ich bleibe hier, versteckt unter diesen Decken und warte auf dich. Komm aber bitte nicht erst in zwei Tagen wieder.“

 

In der nächsten Nacht brachte die Prinzessin Shade durch den Geheimgang in die Stadt. Sie hatte ihr etwas zum Essen, Kleider und etwas Gold besorgt. Als sie sich verabschiedeten gab sie ihr noch einen Brief mit ihrem Siegel.

„Was ist das?“

„Lach mich nicht aus, es ist ein Empfehlungsschreiben an deinen neuen Lehrmeister. Pass auf das er es sofort vernichtet wenn er es gelesen hat.“

„Ich danke dir.“

„Bitte komm mich ab und zu besuchen. Dafür brauchst du das hier.“ Sie reichte ihr noch einen zweiten Brief, der aber nicht verschlossen war. Innen trug er das Siegel der Prinzessin und der Text sagte aus, dass derjenige der ihn vorzeigte, sofort zu ihr gebracht werden sollte. Sie Umarmten sich zum Abschied.

„Auf Wiedersehen.“

„Ich wünsche dir viel Erfolg.“

 

Zwei Jahre vergingen und nichts besonderes geschah. Des Nachts schlich die Prinzessin immer noch durch die Stadt, aber ihre neueste Lieblingsbeschäftigung war Klettern. Sie übte an Felsen im Wald, an den Burgmauern und an Bäumen, bis sie keine Herausforderungen mehr fand. Auf einmal wurde ihr Leben wieder langweilig. So interessant war die Stadt nicht, dass man sich jahrelang damit beschäftigen konnte und das Palastleben schien immer eintöniger zu werden.

Sie überlegte sogar ob sie weglaufen sollte, aber sie verwarf den Plan. Nachher dachte der König noch sie war entführt worden und fing mit irgendwem deswegen Krieg an.

Als sie ihren Vater fragte, ob er ihr erlauben würde Bogenschießen zu lernen, schlug er ihr vor Bettwäsche zu besticken. Als sie endlich damit fertig war, fragte sie ihn nie wieder um Erlaubnis.

Eines Tages kamen die Zigeuner wieder in die Stadt. Sie schlugen ihr Lager am Stadtrand auf und gingen ihren Geschäften nach. Es war Tradition, dass sie im Schloss eine Vorführung gaben und danach ihre Waren vorführten, damit der König die erste Wahl hatte. Aus lauter Vorfreude hüpfte die Prinzessin singend durch ihr Zimmer. Sie zog ihr feinstes Kleid an und Alma schnürte es so fest, dass sie fast erstickte. Es war ihr egal. Endlich etwas Abwechslung.

Am Abend versammelten sich alle in der großen Halle. Die Gaukler tanzten auf dem Seil, spuckten Feuer und jonglierten mit Bällen, Eiern und Schwertern. Als die Vorstellung vorbei war schickte der König seine Jüngste, um ihnen etwas Gold für die Unterhaltung zu geben. Jeder bekam ein Goldstück. Dann sagte er zu der Prinzessin: „ Agnes Mechthild Helewidis Ladina Evanthia such dir etwas aus. Ich lasse dir den Vortritt vor deinen Brüdern.“

Die Prinzessin durchsuchte die Waren und fand etwas, was ihr sehr gefiel. Allerdings war sie sich sicher, dass ihr Vater es ihr nicht kaufen würde. Deshalb suchte sie sich eine glitzernde Goldkugel aus und tat so, als wäre es schon immer ihr größter Herzenswunsch gewesen, so etwas zu besitzen.

Als die Gaukler gegangen waren, kehrte wieder Ruhe im Schloss ein. Tune entschuldigte sich, sie sei müde und ging auf ihr Zimmer. Alma befreite sie aus der Korsage und deckte sie zu als sie im Bett lag. Die Prinzessin kam sich vor wie ein 18 Jahre altes unmündiges Kind. Sobald es um sie herum richtig ruhig geworden war zog sie ihre „Ausgehkleidung“ an und schlich sich nach draußen. 

Wo sich das Zigeunerlager befand hatte sie schon am Tag, von einem der Wachtürme aus festgestellt. Jetzt schlich sie im Schutz der Dunkelheit dorthin. Die Zigeuner waren am feiern. Sie sahen den Mädchen zu, die um das Feuer tanzten und tranken Wein, den der König spendiert hatte. Tune wollte gefunden werden, deshalb lief sie geradewegs auf das Lager zu.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter: „Wen haben wir denn hier?“ Sie drehte sich um und ihr Gegenüber erschrak: „Prinzessin, ich habe euch nicht erkannt, wie kann ich euch dienen?“ Sie konnte ihn gerade noch davon abhalten sich auf den Boden zu werfen.

„Lass das oder sehe ich aus als wäre mein Besuch ein offizieller Anlass?“

Er wagte es aufzusehen und sie zu mustern: „Nein, irgendwie nicht.“ Er war verwirrt, fing sich aber schnell wieder: „Begleitet mich doch und setzt euch zu uns ans Feuer.“

„Gern. Ich dachte schon ihr fragt mich nie. Von meinen Brüdern ist keiner anwesend, oder?“

„ Nein, keine der Hoheiten ist anwesend. Ich meine außer euch natürlich.“

Er führte sie an das Lagerfeuer und bot ihr einen Platz auf einem Kissen an. Sie setzte sich und beobachtete das bunte Treiben um sich herum. Die Zigeuner schienen viel Spaß zu haben.

Irgendwann verbeugte sich ein junger Zigeuner vor ihr und fragte: „Kann ich euch mit irgendetwas dienen Hoheit? Oder seid ihr nur gekommen um etwas Abwechslung zu genießen?“

Sie erkannte ihn sofort: „Vasco? Ich habe dich gar nicht bei Hofe gesehen.“ Dann erinnerte sie sich an seine Frage und setzte hinzu: „Abwechslung und Geschäfte führen mich zu euch. Außer dem wollte ich ein paar neue Lieder lernen.“

„Ich schlage vor wir regeln erst das geschäftliche. Wie kann ich dir helfen?“

„Als ich vorhin den Karren durchwühlte, fand ich zwei Sachen die ich gerne kaufen würde.“ Er stand auf und sie gingen gemeinsam zu dem Wagen mit den Waren. „Was genau? Such es dir heraus.“ Sie suchte und hielt schließlich ihren Fund hoch. „Natürlich kannst du es kaufen, aber ich frage mich wozu eine Prinzessin einen Dolch und einen Bogen braucht.“

„Es ist mir nicht erlaubt mit Waffen umzugehen und sie sind alle gut verwahrt. Aber ich langweile mich und denke dass es mir nicht schadet wenn ich mich verteidigen kann.“

„Das schadet niemandem. Wenn du willst zeige ich dir wie man mit dem Bogen umgeht. Zumindest solange wir noch hier sind.“

„Ich danke dir.“ Die Prinzessin bezahlte die Waffen und schob den Dolch in ihren Stiefel. Den Bogen nahm sie in die Hand. „Gehen wir zurück zum Feuer?“

In dieser Nacht machte die Prinzessin ihrem Spitznamen ale Ehre. Sie kannte viele Lieder und sang die Zigeunerlieder mit. Dann versprach sie am nächsten Abend wiederzukommen und schlich zurück ins Schloss.

In den nächsten Tagen lernte sie die Grundlagen des Bogenschießens und Vasco zeigte ihr auch wie man mit dem Dolch umging. Seit langem hatte sie nicht mehr so viel Spaß gehabt.

Als sie am frühen Morgen nach Hause kam, die Zigeuner wollten an diesem Tag abreisen, war sie sehr niedergeschlagen. Sie betrat ihr Zimmer und erschrak. Ihr Vater saß auf dem Bett.

„Wo warst du?“ Presste er wütend hervor. „Und was hast du da für Sachen an?“

„Vater, ich war nur – äh- Spazieren.“

„Soso, Spazieren. Mitten in der Nacht?“

„Ja, ich konnte nicht schlafen.“

„ Und wo warst du gestern?“

„Gestern?“

„Ja! Auch gestern warst du nicht in deinem Zimmer. Alma ist fast gestorben vor Sorge. Sie hat es mir heute morgen erzählt. Was immer du tust, jetzt ist Schluss damit. Ich würde dich ja verheiraten, aber die Nachbarkönige haben nur Töchter. Du stehst ab sofort unter Arrest und darfst dein Zimmer nicht verlassen. Ich will gar nicht wissen, ob du Schande über mein Haus gebracht hast aber das wird sich ja herausstellen. Diese Kleidung und deine Bücher werden konfisziert. Ich werde Alma verbieten mit dir zu sprechen, damit du genug Muße hast über deine nächtlichen Spaziergänge nachzudenken. Ich war wohl bisher zu nachsichtig. Und in der Zeit hier wirst du an einem Wandbehang arbeiten der die Tugenden darstellt, hast du mich verstanden?“

„Ja Vater“

Die Prinzessin senkte den Kopf und er ging durch die Tür und schlug sie hinter sich zu.

 

War das Leben vorher schon langweilig gewesen, schlug der Stubenarrest alles vorherige um Längen. Sie aß, schlief und arbeitete an dem Wandbehang. Vor ihrer Tür hielt ein Soldat Wache und jedem war verboten mit ihr zu sprechen. War niemand da, übte sie mit ihrem Dolch Zielwerfen auf eine Holzlatte, aber weil die Wache schon einmal nachgesehen hatte, was für ein Geräusch das war, hörte sie damit auf, um nicht auch noch ihre Waffen zu verlieren. Bei der Arbeit an dem Wandbehang sang sie, um sich die Zeit zu vertreiben und ab und zu warf sie einen Blick aus dem Fenster. Sie kletterte an der Wand neben der Tür um in Form zu bleiben und hätte auch versucht durch das Fenster zu entkommen, wäre es nicht zu klein gewesen. Sie dachte oft an Shade und fragte sich was sie wohl gerade machte. Ob sie wirklich eine Ausbildung zur Mörderin gemacht hatte? Seit drei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Nach drei Wochen wurde sie eines Nachts von einem Klopfen geweckt. Sie wunderte sich. Eigentlich kam nur Alma um ihr etwas zu essen zu bringen und die klopfte nicht an, sondern trat, wie der König es befohlen hatte, einfach ein.

Sie steckte ihren Dolch hinten in den Gürtel von ihrem Morgenmantel, schlich blitzschnell zur Tür, stellte sich daneben und sagte: „Herein“.

Die Tür öffnete sich und eine Gestalt in brauner Kleidung trat ein. Sie flüsterte: „Tune?“

„Shade?“ Die Prinzessin traute ihren Augen nicht „Was machst du denn hier?“

„Hallo, wonach sieht es denn aus? Ich befreie dich!“

„Keinen Moment zu früh. Warte ich ziehe mich schnell an.“ Die Prinzessin zog sich ein Kleid an, steckte den Dolch in ihren Stiefel und nahm den Bogen in die Hand. Dann schlich sie zurück zu Shade.

Diese schlug vor: „Am besten nehmen wir den Geheimgang um nach draußen zu gelangen. Was ist? Warum bleibst du stehen?“

„Mir ist noch etwas eingefallen. Ich brauche noch ein paar Minuten.“

„Beeil dich. Wir müssen noch vor Tagesanbruch weit weg sein.“ Die Prinzessin rannte zum Schreibtisch und schrieb hektisch ein paar Zeilen für ihren Vater. Dann setzte sie ihr Siegel darunter und steckte es nach kurzem Überlegen in die Tasche. „Gut, kann losgehen!“

Auf dem Flur lag der Wachmann.

„Ist er tot?“

„Nein, er schläft nur sehr tief. Wir haben noch einige Stunden bis er wieder aufwacht. Hilf mir ihn auf den Stuhl zu setzen.“ Sie setzten den bewusstlosen Wachmann auf einen Stuhl und schlichen dann zum Geheimgang. Die Prinzessin fand es mühsam ihn mit Kleid zu durchqueren, aber sie hatte ja keine andere Wahl. In einem Wäldchen, ein paar hundert Schritte entfernt hatte Shade zwei Pferde angebunden, auf denen sie „flüchteten“.

„Ich danke dir. Viel länger hätte ich das nicht mehr ausgehalten.“

„Ich machte mich auf den Weg als ich davon hörte. Das ganze Reich tratscht über dich. Das Volk meint du hättest dich des Nachts zu einem Liebhaber geschlichen und der König würde dich bis zur Niederkunft verstecken, damit er das Kind danach in einem Kloster verschwinden lassen könnet.“

„Blödsinn!“

„Das dachte ich auch und legte mir gleich einen Plan für deine Befreiung zurecht.“

„Was hast du in den letzten Jahren gemacht?“

„Ich ging zu dem Meister, von dem du mir erzählt hattest und er erklärte sich bereit mich zur Diebin auszubilden. Ich lernte schnell und weil er wusste, dass ich eigentlich Mörderin werden wollte, schickte er mich danach zu einem seiner Bekannten der mich dann weiter ausbildete. Seit einigen Monaten ist meine Ausbildung abgeschlossen und ich weiß alles was eine Mörderin wissen muss.“

„Na dann haben wir ja genug Gesprächsstoff.“

„Was hast du in den letzten Jahren so getrieben?“

„Ich habe hübsch ausgesehen, repräsentativ in der Gegend herumgestanden, bin geklettert und habe Bogenschießen gelernt. Ach ja, ich habe auch einen halben Wandbehang über die Tugenden angefertigt.“

„Klingt ja aufregend“ Shade lachte.

„Ich weiß gar nicht was ich mit meiner neuen Freiheit anfangen soll. Ich war noch nie auf mich allein gestellt.“

„Das bist du doch auch jetzt nicht. Wenn du willst kannst du mich begleiten. Ich ziehe über das Land, von Auftrag zu Auftrag und eine gute Bogenschützin könnte ich gebrauchen.“

„Ich denke gut ist etwas übertrieben.“

„Da hat mir aber ein gewisser Zigeuner etwas anderes erzählt. Also, was sagst du zu meinem Angebot?“

„Ich begleite dich gerne.“ Die Prinzessin dachte  kurz nach „Aber bitte versprich mir zwei Dinge.“

„Welche?“

„Sag mir wenn ich dir zur Last werde...“

„ Mach ich, was noch?“

„...verrate bitte niemanden meine richtigen Namen. Ab heute heiße ich nur noch Tune.“

„Ich verspreche es dir, Agnes Mechthild Helewidis Ladina Evanthia und schwöre auf meine Ehre.“

 

Lachend ritten die Prinzessin und die Mörderin durch den Frühnebel, dem Sonnenaufgang und ihrer gemeinsamen Zukunft entgegen und die Schicksalsgöttin lachte mit.